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Titel
Kentaurenliebe. Seitenwege der Männerliebe im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Keilson-Lauritz, Marita
Erschienen
Hamburg 2013: Männerschwarm Verlag
Anzahl Seiten
184 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Florian G. Mildenberger

Marita Keilson-Lauritz (geb. 1935) gehört einer aussterbenden Spezies an, sie ist Privatgelehrte und der Zwänge eines universitären Alltagsbetriebes seit jeher enthoben. Politische Zuordnungen funktionieren bei ihr nicht. Die Literaturwissenschaftlerin bzw. -historikerin studierte sowohl bei Hans Schwerte (1909– 1999) als auch Hans-Joachim Schoeps (1909–1980). Bekannt wurde sie vor allem mit ihren Studien zur Rolle der Homoerotik im Werk Stefan Georges und der Geschichte homoerotischer Literatur. Mit dieser Thematik beschäftigten sich in der Vergangenheit vor allem (schwule) Männer, die umso bedachter waren, ihre Affinität zum Forschungsgegenstand wahlweise zu verschleiern oder besonders die Bedeutung wissenschaftlicher Objektivität zu betonen. Keilson-Lauritz dreht den Spiess schon in der Einleitung des vorliegenden Buches, das weitverstreute Einzelpublikationen sinnvoll vereint, um. Erst im Kreise schwuler Forscher, so ihre These (S. 8) habe eine fruchtbare Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex «Homosexualität und Literatur» in den 1970er Jahren beginnen können. Damals lebte sie bereits in den Niederlanden mit ihrem Mann, dem Psychoanalytiker Hans Keilson (1909–2011), arbeitete in der Institution der George-Anhänger, dem «Castrum Peregrini», mit und untersuchte zeitgleich die Rolle der dort agierenden älteren Bekannten in der Zeit des Nationalsozialismus. Diese Affinitäten sollten dem Leser gewahr sein, wenn er die Beiträge liest, deren einigendes Band die Rolle des pädagogischen Eros darstellt. Ein Begriff, der in den letzten Jahren angesichts verschiedener Skandale in Erziehungsanstalten schwer in die Kritik geraten ist. Doch Keilson-Lauritz geht darauf nicht ein, verzichtet sogar – und das ist nicht unproblematisch – auf die Thematisierung eines entsprechenden Vorfalls in der Zeit, die sie untersucht: die Affäre um die Erziehungsmethoden des Lebensreformers Gustav Wyneken (1875–1964)1.

Thematisch behandeln die Aufsätze die literaturhistorischen Aspekte der homosexuellen Emanzipationsbewegungen, wobei sich Keilson-Lauritz bewusst nicht dem Mainstream unterwirft und sich auf den Arzt Magnus Hirschfeld (1868– 1935) konzentriert, sondern diejenigen Protagonisten untersucht, die im schwullesbischen Geschichtsbild keine oder nur eine höchst marginale Rolle spielen. Hierzu zählten der Schriftsteller Adolf Brand (1874–1945), Personen aus dem George-Kreis oder der Orientalist und Politiker Carl Heinrich Becker (1876– 1933). Hinzu kommen Essays über frühe Beispiele homoerotischen Literaturschaffens, zum Beispiel Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) oder der weithin vergessene Eduard Kulke (1831–1897) und schliesslich ein Kapitel über den Beitrag des Religionsphilosophen Hans-Joachim Schoeps zu sexualpolitischen Reformdebatten der 1960er Jahre. Alle Aufsätze zeugen von dem grossen Interesse und der umfänglichen Bildung der Autorin sowie ihres Bemühens, den Leser für die dargestellten historischen Personen einzunehmen. Kritik am Handeln der Protagonisten klingt nur selten durch, zum Beispiel wenn Keilson-Lauritz anmerkt, die George-Adepten, die in den besetzten Niederlanden verfolgte jüdische Schüler aufnahmen, hätten sich vor allem von deren Aussehen bei der Wahl der zu schützenden Personen leiten lassen (S. 159).

Gerade jüngere Leser dürften angesichts des Sprachstils von Keilson-Lauritz staunen. Sie gebraucht häufig den Potentialis («könnte»; «vielleicht») oder stellt ihre eigene Meinung deutlich heraus. Alle Texte atmen den Hauch des Positivismus. Aktuelle Debatten, nicht nur zur Problematik der Existenz eines pädagogischen Eros, fehlen. Neuer, im Vergleich zum Erscheinungsdatum der einzelnen Aufsätze, erschienene Forschungsliteratur wurde allerdings in Fussnoten eingeführt. Die Haltung der Autorin zu diesen Trends bleibt dem Leser aber verborgen.

So ist das Urteil über das vorliegende Werk nicht nur positiv. Zweifellos, Keilson- Lauritz versteht es, die Seitenlinien der sexuellen Emanzipationsbewegungen des 20. Jahrhunderts zu beleuchten und so die auch in der Wissenschaftsgeschichte der letzten Jahre verbreitete einseitige Konzentration auf Magnus Hirschfeld und seine Anhänger als häufig geschichtsklitternden Tunnelblick zu demaskieren, aber dabei zeigt sie sich ebenso immun gegenüber Neuformulierungen wie manch Gelehrter, der sich auf die «Hauptlinien der Männerliebe» konzentriert.

1 Siehe hierzu Thijs Maasen, Pädagogischer Eros. Gustav Wyneken und die Freie Schulgemeinde Wickersdorf, Berlin 1995.

Zitierweise:
Florian G. Mildenberger: Rezension zu: Marita Keilson-Lauritz: Kentaurenliebe. Seitenwege der Männerliebe im 20. Jahrhundert. Hamburg, Verlag Männerschwarm, 2013. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 1, 2014, S. 186-187.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 1, 2014, S. 186-187.

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